Tag 21
Die vielen Wunder des EuroVelo 6 -
ein bisschen wie auf dem Jakobsweg
Das was wir heute erleben, ist einfach unfassbar und lässt mich an den ebenso magisch verlaufenden Jakobsweg zurückdenken.
Zunächst geht dieser Tag aber mitten in der Nacht los. Während ich 3 mal nachts auf allen Vieren aus dem Zelt kriechen muss, weil meine Blase das verlangt, verliere ich schon beim zweiten Mal die Nerven.
Ich wünsche mir einfach mal wieder einen Raum MIT Toilette!!!
Zur Erklärung: Manche Sanitäranlagen sind leider so weit von unserem Zelt entfernt (vor allem wenn die Plätze sehr voll sind), dass es einer kleinen Nachtwanderung gleicht. Ganz allein und in der Dunkelheit - nicht gerade sehr berauschend. Von daher wird mein Groll in dieser Nacht, mit den vielen ungeliebten Nachtwanderungen, immer größer.
Ich nutze, die nun eh durchwachte Nacht, um mit Hilfe meines Handys ein Hotel in der Nähe unserer morgigen Etappe zu suchen. Und Tatsache: Es gibt ein "special offering"in Besançon, von einer Hotelkette, die wir schon bei unserer ersten Tour gerne mal als Auszeit vom Zelt genutzt haben. Ich bin hin und weg von dem Gedanken die ganze Nacht nach Lust und Laune pinkeln gehen zu können. Vor Allem OHNE mich aus dem Schlafsack zu pellen und umständlich aus dem Zelt zu kriechen. Ich bin total high von diesen Gedanken. Eine Sache, die als mopsiger und leicht ungelenker Mensch auch ein bisschen schwierig ist: Das Zelten auf dem Boden. Die Tendenz, dass alles ein bisschen schwieriger ist, macht sich hier bemerkbar. Aber zurück zum Thema: Es gibt Hoffnung! Yeah! Ich bin so high, dass ich hier, mitten in der Nacht, bei Mondschein und plätscherndem Fluss, mit dem langsamsten Internet ever, einfach buchen will - ausnahmsweise ohne die bessere (und tief neben mir schlummernde) Hälfte zu fragen.
Ich denke vielmehr, dass morgen früh beim Frühstück als mega Überraschung zu verpacken. Viel zu groß ist auch meine Angst, dass das Schnäppchen von 20% weniger, morgen weg sein wird. Während es neben mir mucksmäuschenstill ist, tippe ich bereits Namen und Adresse ein und will auf bezahlen gehen, da ist auf einmal alles zappenduster. Der Akku hat im entscheidenden Moment seinen Geist aufgegeben. Keine Steckdose in der Nähe, Powerbank leer, muss ich mich wutschnaubend damit zufrieden geben, das Ganze erst morgen früh buchen zu können. Ich gebe ein letztes Stoßgebet zum blitzenden Mond, dass die bessere Hälfte morgen nicht wieder im Sparmodus unterwegs ist und das Ganze für "den puren Luxus" hält. Mit diesen Gedanken falle ich tatsächlich nochmal in einen unruhigen Schlaf, aber immerhin mache ich nicht die Nacht durch, wie schon so manches andere Mal.
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Tja, und am nächsten Tag, ob ihr es mir glaubt, oder nicht, schlägt die bessere Hälfte ohne zu zögern, als ich ihm von meinem nächtlichen Überlegungen erzähle, ein. Ich kann es nicht glauben: Er ist dafür.
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Das ist das Wunder 1 an diesem Tag (keine Sorge es kommen noch einige).
Nun wird in Hochstimmung an unserem luxeriösem Campingtisch der morgendliche Kaffee zubereitet, der so heute ganz besonders schmeckt. Es sind noch ca. 32 km nach Besançon und somit ist das Hotel und die flauschig weißen Betten bereits greifbar.
Vielleicht ist das auch der Grund, dass wir noch entspannter sind, als sonst, denn wir kommen erst um 12 Uhr los. Eine Stunde später, als die anderen Morgen.
Oh je, aber immerhin der Karren rollt endlich wieder. Hallelujah!
Leider rollt der Karren heute nur sehr, sehr langsam. Die Fahrt führt den Weg zurück, den wir hierher zum Campingplatz genommen haben. Ja, der Hinweg war bergab und logischerweise ist deswegen der Rückweg dann bergauf. Schon gestern kam es mir so vor, als wenn ich einen wirklich schweren Anhänger hinter mir herziehen musste, um nochmal sinnbildlich beim Karren zu bleiben, und heute toppt der Anstieg alles.
Es ist ein einziger Kampf! Ein kleiner roter Punkt, ca. 2 km vor mir, zeigt mir, wie fit und schnell die bessere Hälfte ist. Ich weiß nicht, ob meine Konstitution heute so schlecht ist, aber ich habe eigentlich keine Chance ihn einzuholen. Nach den ersten 3 km gebe ich ein lautes "Halt! Stop!" von mir und entdecke dank meines schleifenden Schutzbleches, dass mein Reifen dabei ist, sich hinten quer zu stellen. Er schleift bereits MASSIV am Rahmen und hat sich verkeilt. WTF, ist das jetzt?!
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Wie sich nach näherer Betrachtung zeigt, war die Mutter leider nicht fest genug angezogen, sodass sie sich Reifen Umdrehung für Reifen Umdrehung immer mehr gelockert hat. Tja, der Groll auf "Cycles Beha" wird immer größer, denn nur sie können aufgrund der vor ein paar Tagen getätigten Reparatur dafür in Frage kommen. Alter, was haben diese Styler-Jungs für satte 35€ noch verbockt? Auf jeden Fall ein erneuter Stopp dank ihnen.
Denn die Bilanz der besseren Hälfte ist nicht gut: Absteigen und keinen Zentimeter weiter. Mitten im Nowhere und 3 km vom nächsten Dorf in beiden Richtungen entfernt, scheint es keine Chance zu geben, aus dieser Misere herauszukommen. Unsere Köpfe laufen heiß und ich will unter keinen Umständen akzeptieren, dass ich nicht weiterfahren kann. Ein Blick in das Gesicht der besseren Hälfte, macht jedoch klar, dass ich mich geschlagen geben muss. Wenn er diesen Blick hat, dann kann ich mit Argumenten und Ideen kommen, so viel ich will, dann ist klar: Hier ist jetzt Schluss! Ich als notorische Optimistin glaube immer bis zum letzen Moment noch an eine Chance, ein Wunder, an ein Zeichen. Und das Zeichen kommt auf uns zugerast. Eine junge Familie, mit dicken, prall gefüllten Taschen am Fahrrad nähert sich uns im flotten Tempo, während die bessere Hälfte bereits meine Fahrradtaschen absattelt und irgendwas von "wir brauchen Werkzeug und vielleicht kommt ja noch jemand vorbei" faselt. Ich antworte in meiner Schockstarre, dass wir bisher nur eine einzige Fahrradtruppe getroffen haben. Die ist ungefähr vor 40 Minuten an uns vorbeigefahren. Gleichzeitig zeige ich auf die Familie, die jetzt nur noch ein paar Meter von uns entfernt ist.
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Ja, und dann passiert das Wunder 2:
Die Familie, die sich als total sportlich und professionell ausgestattet herausstellt hat tatsächlich den berühmten clé Allen dabei (Inbusschlüssel) und wir schaffen es sie zum Anhalten zu bewegen.
UND der Mann schafft es nach anfänglicher Verzweiflung das Problem zu beheben. Was ist das bitte für ein Glück?! Wir haben außer einer angefutterten Nusskernmischung nichts, was wir diesen Göttern auf Rädern anbieten können. Sie sagen, sie wollen keine Gegenleistung, sie freuen sich einfach, uns geholfen zu haben und es macht sie glücklich, dass wir weiterfahren können.
Also nicht, dass ihr das jetzt falsch versteht, aber die ganze Aktion hat mindestens 20 Minuten gedauert und der Mann musste seine gesamte Vordertasche ausräumen, um an das Werkzeug zu kommen. Soll heißen: Wir haben sie wirklich ausgebremst.
Den Tränen nahe bleiben wir zurück.
Ab jetzt rollt der Karren, ohne den gefühlt schwerfälligen Anhänger, weiter und ich überhole zeitweise wieder die bessere Hälfte. Yeah! So bringt es schon mehr Spaß!
Wunder Nummer 3 begegnet uns wenig später auf dem Velo:
Ein Typ mit gefühlt fast nichts am Fahrrad, außer den Funktionsklamotten, die er am Körper trägt und jeden Tag wäscht, einem Schlafsack und einem Mini-Zelt erzählt uns, als er den Jakobsweg gelaufen ist, hörte er von diesem Sprichwort: Je mehr Sachen man dabei hat, desto größer ist die eigene Angst.
Lachend schauen wir auf unsere Räder. Tja, wir haben anscheinend die Buchse voll :-)
... im Gegensatz zu ihm auf jeden Fall!
... und ja, Hauptsache unser Daumen ist hoch, ne?! ;-)
Wunder Nummer 4 begegnet uns in Besançon. Wobei man bei dieser Begegnung eher von einem sehr wundersamen Wunder sprechen muss, denn so etwas haben wir bisher auch noch nicht erlebt.
Zunächst läuft aber alles nach Plan und wir haben eine atemberaubende Einfahrt nach Besançon, die uns an einer sehr alten und beeindruckenden Festung vorbeiführt und kurz danach durch eine meterlange und ebenso urige Fledermaus-Höhle durchführt. Das Ganze versetzt uns in eine andere Zeit, die an Räuber und Piraten erinnert. Total geflasht wähnen wir uns nun kurz vor unseren heiligen Betten - schließlich sind wir jetzt endlich in Besançon angekommen. Aber das Hotel liegt ein wenig außerhalb - 3 km um genau zu sein. 3 km sind natürlich ein Witz mit dem Fahrrad, jedoch passiert hier etwas, was wir bisher zum Glück noch nicht erlebt haben: Unsere beiden Handy sind "tot".
Meins meldet sich mit der Nachricht "stark überhitzt" einfach so ab und zeigt ab da nur noch einen schwarzen Bildschirm. Dass Handy der besseren Hälfte kann nicht auf Google Maps zugreifen, da es seit 2 Tagen kein Guthaben mehr hat (ihr erinnert euch vielleicht an die vergebliche Suche nach einem Aldi um das Ding wieder aufzuladen). Auf einem abgelegenen Radweg, neben der Autobahn stehen wir nun relativ ratlos da und haben das Gefühl, dass wir eventuell das erste Mal Probleme haben werden an unserem heutigen Ziel anzukommen. Wir wissen nicht genau wo wir sind und noch weniger, wo wir hinmüssen
Ich kriege direkt 2 Nervenzusammenbrüche hintereinander. Die Hitze ist gnadenlos, ich weiß wir sind ganz kurz vor dem Ziel, aber irgendwie nun doch nicht mehr und ich will einfach nur noch in dieses Sch... weiße Bett.
Ein wenig verloren rollen wir weiter. Die bessere Hälfte konnte kurz vor dem Shutdown noch sehen, dass es ein ganzes Stück weiter geradeaus ging. Nach 10 Minuten machen wir einen erneuten Versuch, dass Handy wieder auf Sendung zu bekommen. Und Tatsache hat es sich anscheinend ein bisschen abgekühlt, denn es geht wieder. Trotzdem haben wir Todesangst, wie lange dieser "Cool down"-Zustand noch anhält. Im Eiltempo rasen wir daher über die Straßen und Kreuzungen und verfahren uns dabei natürlich gnadenlos. Noch dazu ist diese Strecke wirklich kompliziert, weil es per Brücken über die Autobahn geht, natürlich auch mal wieder Berge hoch und ich inzwischen nur noch am Fluchen bin. Komischerweise erleben wir es oft, dass die letzten Kilometer am Ende einer Tagesetappe die längsten und schlimmsten sind. Aber so schlimm wie hier war es noch nie! Und wie es so will, gibt das Handy kurze Zeit später, mitten in einer zugebauten Wohnanlage wieder seinen Geist auf. Die voranfahrende bessere Hälfte flucht inzwischen auch, macht eine Vollbremsung und starrt verzweifelt auf das schwarze Display. Ein Typ spricht ihn an. Als ich heranrolle staune ich nicht schlecht. Der Typ macht einen ziemlich fertigen Eindruck und ich habe kein gutes Gefühl. Aber er schwingt sich sofort auf sein Fahrrad und möchte uns zum Hotel begleiten. Er sagt, dass er den Weg kennt. Okay, wer so motiviert ist, kriegt eine Chance und wir haben ja keine wirklich andere Wahl. Also geht es zu dritt los. Nach kurzer Zeit sagt er, dass er eine Abkürzung kennt. Okay, warum nicht. Dafür müssen wir durch den Park fahren. Klingt gut, denke ich. Leider sind die Parks hier mit Absperrstangen eingerichtet, damit keine Mopeds in den Parks fahren. Normalerweise kann man auf der einen Seite rein und per Drehbewegung auf der anderen Seite raus, aber weil unsere Bikes so beladen sind bleiben sie stecken. Wir versuchen alles, aber es geht nicht. Der Typ hebt sein Fahrrad einfach über die Abperrung. Übermotiviert setzt er an, es mit unseren Rädern genauso zu tun. "Nein", schreien wir im letzten Moment. Er hat keine Vorstellung davon wie schwer die Dinger sind und das Ganze wäre in umgekippten Fahrrädern und beschädigter Ware geendet. Okay, also muss ein anderer Weg her, den der Typ schnell findet. Es geht über Märkte und an Hochhäusern und an Cafés vorbei. Wir überqueren erneut die Autobahn und fragen uns wie lange der Weg wohl noch sein kann. Die gGegend ist auch wirklich sehr heruntergekommen und irgendwann fahren wir nur noch an zwielichtigen Shisha Bars vorbei. Alle gucken uns mit großen Augen an unser Guide sagt, dass ist nicht mehr Frankreich hier, sondern "little Algerien". Ich kriege zum ersten Mal so ein mulmiges Gefühl, wo der Typ uns hinfährt und was mit uns passieren wird, denn es ist wirklich eine andere Welt hier. Wir sind hier ganz klar die Touristen. Irgendwann hält er vor einem Gebäude und sagt: So da sind wir!
Wir gucken uns an und es ist klar: Das ist es nicht! Die bessere Hälfte erklärt ihm dass wir doch das Hotel suchen und er fäßt sich an den Kopf und sagt dass es ihm leid tut dass er das jetzt verwechselt hat. Wir können es nicht glauben. Seit geraumen 20 Minuten fahren wir durch die Gegend und der Typ hat es anscheinend vergessen wo wir hinwollten. Aber es kommt noch besser. ER fragt einen Passanten ob er wüsste wo das Hotel ist. Jetzt ist uns klar, dass er nie wusste wo es eigentlich ist. Er wollte einfach ein bisschen Entertainment und hat uns ein bisschen die Gegend gezeigt. Ich will nur noch weg. Die bessere Hälfte schmeißt erneut das Handy an, was zum Glück wieder geht und anzeigt das es ab hier nur noch 1,2 km sind Inshallah. Wir düsen ganz schnell los, bedanken uns noch für seine großzügige Hilfe und weg sind wir. Auf diesen letzten Meteren kommt tatsächlich noch ein heftiger Anstieg und eine erneute Fahrradabsperrung. Zum Glück ist das ein anderes Modell und wir passen mit unseren Rädern durch.
Ich fühle mich, als ob ich sterbe, tue es aber nicht (Wunder Nummer 5).
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Wunder Nummer 6: Wir finden wirklich das B&B Hotel von Besancon
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Wunder Nummer 7: Der Hotelmitarbeiter hat Mitleid mit unserem Geschleppe von den Fahrradtschen und Sachen, um sie in der 2.Stock zu tragen und bucht uns ebenerdig in die Räume für Rollstühle um. Wir können unsere Fahrräder daher einfach voll beladen mit ins Zimmer schieben, weil sie total geräumig sind.
Ein Luxus der an diesem Tag wirklich unbezahlbar ist.
Mit Geschrei lass ich mich ins Bett fallen und nachdem wir noch einen letzten anstrengenden Einkauf hinter uns gebracht haben, wart man uns draußen nicht mehr gesehen. Mit Glotze an und von unseren bunten Lebensmitteln umgeben liegen wir im Bett und feiern und essen wie Gott in Frankreich. Ja, es gibt einen Gott, das ist nun klar. Er weilt auch auf dem Velo 6 soviel ist nun auch klar, denn wenn man bedenkt was heute alles schiefgelaufen ist ist es doch das oberwunder dass wir jetzt tatsächlich hier in diesem göttlichen Hotel gelandet sind
Das 7. Weltwunder!
Und das wahre Wunder kommt dann nachts: Ich kann auf Toilette gehen ohne Nachtwanderung und Geklettere. Mein Gott, wie viele Wunder verträgt ein schwaches Camper Herz?
So viele, bis es einen wieder auf den harten Zeltboden der Realität zurückwirft, auf jeden Fall.
Aber heute gibt es keine Realität. Heute gibt es nur mich und diesen blütenweißen Traum aus Bett - und meine EIGENE Toilette!
Dass muss ich jetzt erstmal verarbeiten, denke ich, während ich mich schon schmunzelnd auf mein flauschiges und wohl duftendes Kopfkissen drehe und noch schnell ein Stoßgebet an den Camino-Gott, den es seit heute auch auf dem Velo 6 gibt, sende. "Danke, für all die Wunder!!!"